Die seit 1854 im British Museum als Christusdarstellung aufbewahrte Zeichnung wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch als "Stehender Prophet" oder "Evangelist" gedeutet (vgl. Lippmann/ Winkler 1927 VI, S. 8, Nr. 595). Die bärtige Figur steht frontal zu den Betrachter*innen gewandt, präsentiert ein aufgeschlagenes Buch und vollzieht den Segensgestus.
Bereits Moritz Thausing und Charles Ephrussi verwiesen in den Jahren 1876 und 1882 darauf, dass die oben mittig aufgebrachte Notiz, die eine Jahreszahl und den Verweis auf Martin Schongauer beinhaltet, eigenhändisch von Dürer aufgebracht worden sei. Dieser war, den heute erhaltenen Abschriften seiner sogenannten Familienchronik zufolge, 1492, also nach Martin Schongauers Tod, zu Gast bei dessen Brüdern in Colmar und Basel (vgl. z.B. Exemplar der Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, Will Nor III 916 fol., 16r).
Obwohl Sidney Colvin die Zeichnung bereits 1885 Schongauer zuschrieb, führte Dürers handschriftliche Notiz zu einer die Autorschaft betreffenden Uneinigkeit in der Forschungsgemeinde. Friedrich Winkler nahm sie letztlich als Werk Dürers nach Schongauer in sein zwischen 1936 und 1939 erscheinendes Verzeichnis der Dürer-Zeichnungen auf, betonte aber, dass die Authentizität keineswegs gesichert sei (vgl. Winkler I, S. 15, Nr. 13). Durch Analysen der vorwendeten Tinten konnte in einem von 2011-2012 laufenden Projekt nachgewiesen werden, dass die Zusammensetzung der für Notiz bzw. Zeichnung verwendeten Tinten sich unterscheidet.
S. 8, Nr. 595
S. 73, Nr. 629