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Die Kohlezeichnung konnte im Jahr 1877 unter Friedrich Lippmann für die Berliner Sammlung erworben werden. Nicht zuletzt über die wiederholt als "schonungslos" bezeichnete Realitätsnähe besitzt das Großformat eine enorme Anziehungskraft, sodass es 2006 sogar zur Ausstellung "Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance" anregte.
Dürer zeichnete seine Mutter Barbara als Brustbild in Nahsicht. Die Betrachter:innen blicken seitlich auf die verhärmte Frau, die unter einem Tuch hervorblickt. Ihre Stirn ist in Falten gelegt, ihre Wangen eingefallen und die Schlüsselbeine treten knochig hervor. Insbesondere die dargestellten Altersanzeichen, die Ausgezehrtheit und das hervortretende Auge der 63-jährigen Frau gaben Anlass, auf ihren Gesundheitszustand rückzuschließen (vgl. Pirsig 2006, S. 17-22).
Dürer selbst setzte seiner Mutter verschiedentlich eindringliche Erinnerungsmale in Bild und Text. Bereits 1490 malte er sie (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. Gm1160) und beschrieb posthum ihr Leben seit ihrer Heirat in der sogenannten Familienchronik, die heute nur noch durch Abschriften überliefert ist. Derzufolge heiratete sie als 15-Jährige "hübsche gerade Jungfrau" 1467 seinen Vater und gebar ihnen bis 1492 insgesamt 18 Kinder, wovon nur drei Söhnen ein Leben im Erwachsenenalter beschieden war. Alle anderen ihrer Kinder starben. Auf der Berliner Zeichnung ergänzte Dürer die in Kohle aufgesetzte Inschrift, die den 19. März 1514 als Entstehungstag überliefert (vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2023, S. 194, Kat.-Nr. 74), um eine Notiz in brauner Tinte: Er notierte ihren Todestag. Durch das von ihm selbst verfasste Fragment, das im Berliner Kupferstichkabinett als sogenanntes "Gedenkbuch" aufbewahrt wird (vgl. Kupferstichkabinett (Berlin), Inv.-Nr. Cim 32, fol. 19), wissen wir heute sogar, dass er in der Stunde ihres Todes bei ihr gewesen ist. Sie, die nach dem Tod seines Vaters bei Dürer und seiner Frau Agnes lebte, beschrieb er darin als "fromme Frau", die trotz der Erschwernisse ihres Lebens durch Krankheit und Tod "nie rachsüchtig gewesen ist". Sie habe zwar den Tod gefürchtet, aber nicht, vor Gott zu treten. Zudem hätte sie ihm noch ihren Segen gegeben, göttlichen Frieden gewünscht und viele schöne Lehre dargeboten, auf dass er sich vor Sünden hüten solle (vgl. 19v). In Kombination von schriftlichen Überlieferungen und Porträts ist es Dürer selbst, der uns ein persönliches Bild seiner Mutter übermittelte.
Dass die Zeichnung es bis in die Moderne vermag, hochemotionalisierte Themen zu transportieren, macht die Adaption "Sozialfall" von Klaus Staeck deutlich. 1971, während in Dürers Heimatstadt Nürnberg die Ausstellung zum 500. Geburtstag Dürers gezeigt wurde, ließ er auf eigene Rechnung 330 Litfaßsäulen der Stadt mit Dürers Mutter plakatieren. Er ergänzte um die in rot gedruckte Frage: "Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?" (vgl. Ex. Stuttgart, Staatsgalerie, Inv.-Nr. AP 1976/55).
S. 98, Nr. 591
S. 108, Nr. 1052
S. 1394, 1514/1
Nr. 79
S. 466, Nr. 3