Graeven, Hans (1866-1905)

Nach dem Abitur in Hannover begann der als Jugendlicher verwaiste Graeven 1884 das Studium der Klassischen Philologie und Archäologie sowie der Germanistik in Göttingen. Je ein Semester verbrachte er in Tübingen und Berlin. 1890 erfolgte die Promotion mit einem altphilologischen Thema. Das 1891 abgelegte Oberlehrerexamen deutet auf das zunächst anvisierte Berufsziel als Gymnasiallehrer, das er aus gesundheitlichen Gründen nicht realisieren konnte.
Aufgrund eines chronischen Lungenleidens übersiedelte in das klimatisch günstigere Italien und ließ sich in Rom nieder. Dieser Entschluss kam ebenso seiner Gesundheit zugute wie seinen wissenschaftlichen Interessen. Hier arbeitete und wohnte er fast ein Jahrzehnt als Privatgelehrter ohne feste berufliche Stellung im Kaiserlich Deutschen Archäologischen Institut und bestritt seinen Lebensunterhalt vor allem durch Auftragsarbeiten für auswärtige Gelehrte. In dieser Zeit entwickelte sich zu einem der führenden Spezialisten auf dem Gebiet christlich-spätantiker und mittelalterlicher Kleinkunst und Miniaturmalerei. Auf der Grundlage einer umfassenden Kenntnis antiker Texte und Denkmäler wurde er zum Pionier auf dem Gebiet der noch weitgehend unerforschten Elfenbeinkunst, für die er eine Gesamtdarstellung seit den Anfängen bis zur Neuzeit plante. Dazu betrieb er auf Studienreisen in Italien, Frankreich, England und Deutschland eine systematische Aufnahme der frühchristlichen und mittelalterlichen Elfenbeinwerke in öffentlichen wie privaten Sammlungen. Stets orientiert an der Maxime einer Autopsie der Originale hat er diese zu großen Teilen erstmals erschlossen.
Im Rahmen einer für ihn ausgelobten Preisaufgabe befasste er sich zwischen 1895 und 1898 mit spätantiken Diptychen, deren Lösung ihm eine erhebliche Summe als Preisgeld seitens der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften einbrachte, das er weiter in Studienreisen und fotografische Ausrüstung investierte. Danach erhielt er mehrfach Unterstützungen für seine Forschungen auch durch die Berliner Akademie der Wissenschaften, das Deutsche Archäologische Institut und das preußische Kultusministerium.
Als Auftragsarbeit der Königlichen Museen in Berlin beendete er 1897 ein „Verzeichnis der Knochen- und Elfenbeinskulpturen“ des Antiquariums mit 334 beschriebenen, bestimmten und selbst fotografierten Objekten, in dem erstmals eine derartige Sammlung nach Epochen und Sachgruppen systematisiert sowie um Parallelen und Literatur ergänzt war. Obwohl druckreif, blieben beide erhaltenen Fassungen unveröffentlicht. Erst in jüngerer Zeit wurde die Autorenschaft Graevens erkannt und seine Forschungsarbeit ausgewertet, unter wörtlicher Übernahme seiner Beschreibungen und Neuaufnahmen der infolge des Zweiten Weltkriegs verschollenen 127 Stücke (Platz-Horster 2018).
Die in England und Italien aufgenommenen Elfenbeinwerke hat er 1898 und 1900 in „photographischer Nachbildung“ mit originalen Fotos und präzisen Katalogangaben unter Verzicht auf noch spekulative Lokalisierungen und Datierungen in zwei Serien der Fachwelt zugänglich gemacht. Als methodisch wegweisend erwies sich dabei die von ihm persönlich eingesetzte neue Technik der Fotografie samt der Aufnahme mit Maßstäben, was nun vergleichende Studien unabhängig vom Standort der Originale erlaubte. Aus diesem Grunde engagierte er sich nicht zuletzt auch in der „Vereinigung zum Austausch von Photographien aus dem Gebiete mittelalterlicher Kunst“. Seine Arbeiten brachten ihn in Verbindung mit zahlreichen Fachgelehrten der Zeit, so insbesondere mit dem ihm auch freundschaftlich verbundenen Kunsthistoriker Adolph Goldschmidt in Berlin.
Die Besserung seiner gesundheitlichen Umstände erlaubte Graven um 1900, nach Deutschland zurückzukehren, wo er als Direktorialassistent am Kestner-Museum im heimischen Hannover tätig werden konnte. Die dortigen exquisiten Sammlungen aus Mittelalter und Renaissance entsprachen durchaus seinen Interessen, was umgehend in mehreren Publikationen ihren Niederschlag fand.
Mit einem Auftrag des Deutschen Archäologischen Instituts konnte er nun seine wegweisenden Forschungen auch auf die antiken Elfenbeinwerke ausdehnen. Nach dem Vorbild der beiden von ihm publizierten Serien zu christlichen Denkmälern in England und Italien sollte er weitere Serien bearbeiten, deren erste und einzige Folge 1903 mit einer Auswahl aus italienischen Sammlungen herausgegeben wurde.
Bevor das vielversprechende Werk fortgesetzt werden konnte, übernahm Graeven eine neue berufliche Aufgabe. Nach dem Tod Felix Hettners wurde er auf Vorschlag von Georg Loeschcke 1903 zum Direktor des Provinzialmuseums Trier berufen. Die seit 1899 in Trier betriebene Kanalisation der Stadt hatte zu einer Fülle von Bodenaufschlüssen geführt, deren sorgfältige Auswertung erstmals die Rekonstruktion eines zuverlässigen Plans des römischen Straßennetztes erlaubte. Es ist Graevens bleibendes Verdienst, diesen Plan fertiggestellt und 1904 publiziert zu haben. Das von ihm entworfene Projekt der Abformung und ausführlichen Veröffentlichung der „Igeler Säule“, des größten aus der Römerzeit erhaltenen Grabpfeilers in den Nordwestprovinzen, wurde 1907 von seinem Nachfolger Emil Krüger realisiert. In der Nachfolge Hettners war Graeven seit 1903 auch Mitherausgeber der „Westdeutschen Zeitschrift“ und Redakteur des angeschlossenen „Korrespondenzblatts“, das für die Altertumsforschung im römischen Deutschland seinerzeit unersetzlichen Zentralorgans.
Nach nur zweieinhalbjähriger Amtszeit als Trierer Museumsdirektor verstarb Graeven 1905 infolge einer langwierigen Lebererkrankung im 40. Lebensjahr. Wäre ihm eine längere Wirkungszeit in Trier vergönnt gewesen, wäre der hier stets dominierenden Römerzeit wohl eine intensivere Erforschung der frühchristlichen Epoche und des Mittelalters zur Seite getreten.
Graeven darf als bester Kenner der Elfenbeinkunst der Antike und Nachantike seiner Zeit gelten und wurde zum Begründer der corpusmäßigen Erfassung dieser Denkmälergruppe. Auf seinen Vorarbeiten beruhen die großen Studien der nächsten Forschergeneration mit Richard Delbrueck, Adolf Goldschmidt und Kurt Weitzmann.