Weder "die mittelbare oder unmittelbare Einbindung der Prähistorischen Archäologie in die 'Ostforschung' noch die Integration nationalsozialistischer Vor- und Frühgeschichtlicher in die ehemalige DDR" sind bislang untersucht worden. "Beide Problemkreise überschneiden sich in der Biographie Werner Radigs, der sich 1933 dem Führer des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte Hans Reinerth anschloss, als Leiter der Sektion Vorgeschichte am Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO) in Krakau ein prominenter Vertreter archäologischer Ostforschung war und nach 1945 im Akademiebetrieb des antifaschistischen Staates eine zweite Laufbahn aufbauen konnte." (Strobel 2005, 282-283)

Werner Radig wurde am 29.8.1903 als Sohn des Fotografen Hugo Max Radig und dessen Ehefrau Marie, geb. Zimmermann in Wurzen geboren. Er besuchte die Knabenbürgerschule (1910-1914) und das humanistische Staatsgymnasium in Wurzen, wo er Ostern 1923 das Abitur ablegte. Das Studium führte den Abiturienten nach Tübingen, München und Lausanne, ehe er im Herbst 1924 nach Sachsen an die Alma Mater Lipsiensis zurückkehrte und gleichzeitig Lehrveranstaltungen in Halle besuchte. Vier Jahre später wurde Radig im Januar 1928 im Hauptfach Geschichte mit Frühgeschichte sowie in den Nebenfächern Völkerkunde und Germanistik mit der Arbeit „Der Wohnbau im jungsteinzeitlichen Deutschland“ zum Dr. phil. promoviert. Auch wenn die Prähistorie an der Universität Leipzig noch keine selbstständige Disziplin war und die Dissertation von dem Landeshistoriker Rudolf Kötzschke (1867-1949) sowie dem Völkerkundler Friedrich Krause (1881-1963) begutachtet wurde, hatte sich Radig mit dieser Studie, die auch von ersten Grabungserfahrungen in jungsteinzeitlichen Feuchtbodensiedlungen am Federsee inspiriert sein dürfte, als „Fachprähistoriker“ qualifiziert.
Nachdem sich der Student an den Ausgrabungen Georg Bierbaums (1889-1953) am slawischen Burgwall von Köllmichen beteiligt hatte, übertrug ihm der Archivleiter 1927 Sondierungen an einer Befestigung bei Oelschütz an der Mulde und dem promovierten Berufsanfänger 1928 sogar die Erfassung vor- und frühgeschichtlicher sowie mittelalterlicher Wallanlagen im Westteil des Freistaates, die im Auftrag der von Wilhelm Unverzagt (1892-1971), dem Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin initiierten „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord- und ostdeutschen Wall- und Wehranlagen“ auch in Sachsen erfolgte und von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gefördert wurde. Innerhalb von zwei Jahren hat Radig annähernd 250 Befestigungen inventarisiert. 1928 heiratete Radig eine Nichte seines Doktorvaters, die Pharmazeutin Ilse Kötzschke, die als Apothekenangestellte so lange entscheidend zum Einkommen von Ehepaar und junger Familie beigetragen haben dürfte, bis 1935 die Berufung auf eine Dozentur für Vorgeschichte an der Hochschule für Lehrerbildung in Dortmund den prekären Arbeitsverhältnissen aus befristeten Werkverträgen, u. a. die Inventarisierung der Lausitzer Kultur in Sachsen, sowie diversen Publikations-, Vortrags- bzw. Ausstellungsprojekten ein Ende setzte.
Nicht zuletzt dürften mangelnde Berufsperspektiven und das zwischenzeitlich zerrüttete Verhältnis zu seinem Dresdner Mentor Radig bewogen haben, sich 1932 dem Tübinger NS-Prähistoriker Hans Reinerth (1900-1990) anzunähern und aus der persönlichen politischen Radikalisierung Karrierekapital zu schlagen. Freilich beförderten zunächst weder das Engagement für die 1932 gegründeten „Freien Vereinigung für Vorgeschichte“ oder für Reinerths Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte noch parteipolitischer Aktivismus das berufliche Fortkommen. Aus dem Ehrenamt des Landesleiters Sachsen im Reichsbund bezog der junge Archäologe kein zusätzliches Einkommen.
Erst 1936 wurde Radig zum Professor mit besonderem Lehrauftrag für Vorgeschichte und Geschichte an die Hochschule für Lehrerbildung in Elbing/Westpreußen berufen und damit für seine Loyalität zum Reichsbundführer mit einer Festanstellung am pädagogisch-propagandistischen Rand des Faches abgefunden. Nach einem kurzen Militäreinsatz beim „Polenfeldzug“ bedeutete die Ernennung Radigs zum Leiter der Sektion Vorgeschichte am Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO) in Krakau, das im April 1940 auf Initiative des Generalgouverneurs Hans Frank (1900-1946) gegründet worden war, nicht nur einen weiteren Karrieresprung und die Rückkehr in die Fachwissenschaft, sondern vorübergehend auch die Garantie für eine UK-Stellung. Archäologische Denkmalpflege, Sammlungsbetreuung und Forschung standen gleichwohl völlig im Dienste der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den besetzten polnischen Gebieten bzw. im Reichskommissariat Ukraine. Der „Osteinsatz“ diente dem Volkstumskampf und der „Sicherstellung“ von Kulturgut in Konkurrenz zu anderen NS-Dienststellen. 1943 verloren die Sektion ihre Kriegswichtigkeit und ihr Leiter seine UK-Stellung. Der Unteroffizier wurde im März 1943 eingezogen und im rückwärtigen Gebiet verschiedener Kriegsschauplätze, u.a. in den Niederlanden, Frankreich und Weißrußland eingesetzt, bis er im Mai 1945 in britische Kriegsgefangenschaft geriet.
Nach kurzer Internierung ließ sich Radig mit der aus Elbing geflohenen Familie im thüringischen Zeulenroda nieder, wo ihm alte Kontakte einen beruflichen Neuanfang im Kulturbund sowie in der Erwachsenenbildung, Museumsarbeit und Denkmalerfassung ermöglichten. Weder sein ehemaliger Vorgesetzter Bierbaum noch dessen Nachfolger Werner Coblenz (1917-1995) hätten eine Rückkehr Radigs in die sächsische Landesarchäologie widerstandslos hingenommen. Schon 1946 trat das ehemaligen NSDAP-Mitglied (1.5.1937, 5 867660) in die LDPD ein und gewann Anschluss an die neuen politischen Verhältnisse. Fünf Jahre später war der „bürgerliche“ Wissenschaftler so weit in der DDR „angekommen“, dass der Übernahme in ein unbefristetes, gut dotiertes Beschäftigungsverhältnis zunächst bei der Deutschen Bauakademie, dann 1955 als Bibliothekar bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin nichts mehr im Wege stand, wo sich sein Forschungsschwerpunkt endgültig von der Vorgeschichte auf die Bauernhaus- und Bauforschung sowie Volkskunde verlagerte. Dieses Engagement für die Haus- und Siedlungsforschung wurde 1960 mit der Versetzung an das Institut für Volkskunde und der Johannes-R.-Becher-Medaille in Gold belohnt. So wenig Radigs NS-Vergangenheit und Leitungsfunktion im IDO in Fachkreisen und den Leitungsgremien der Akademien ein Geheimnis war, so wenig musste Radig befürchten, von den Sicherheitsorganen der DDR für seinen „Osteinsatz“ im Generalgouvernement zur Rechenschaft gezogen zu werden. Erst als sich das LDPD –Mitglied 1963 um einen Sitz in der Berliner Stadtverordnetenversammlung bewarb, griff das Ministerium für Staatssicherheit ein: Die Kandidatur wurde unterbunden, weil sie die Kampagnen Ostberlins gegen westdeutsche Prähistoriker, die tief in den NS verstrickt waren (Herbert Jankuhn [1905-1990], Bolko von Richthofen [1899-1983]) diskreditiert hätte. Radig starb 1985 in Berlin.