DW_214A Pietro (Fioretti) da Viterbo, später hl. Crispinus von Viterbo (1668-1750)

Es handelt sich um eine zweite und bis auf wenige Details identische Version eines Gemäldes (Kat. 214) in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, München, das 1792 durch Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz aus dem Nachlass des Malers Nicolas Guibal (1725-1784) erworben worden war. Auszuschließen ist, dass es sich um Abraham da Santa Clara handelt, mit dem das Bildnis laut Rahmenetikett bisher identifiziert wurde, was aber bereits der Verfasser des rückseitig aufgeklebten Zettels aufgrund von dessen Lebensdaten in Zweifel zog. Laut den biographischen Quellen zu Mengs ist in diesem Bildnis Giuseppe bzw. Pietro da Viterbo dargestellt. Azara-Fea zufolge soll der bettelnde Kapuzinerfrater (capuccino errante) in Rom öfters das Haus von Mengs aufgesucht haben, der ihn nur wegen seines schönen Kopfes konterfeit habe. Seine Benennung des Dargestellten als Giuseppe da Viterbo, die 1787 aus einer Distanz von über 40 Jahren erfolgte, erscheint jedoch weniger verlässlich als der durch Doray de Longrais überlieferte Name «Pierre de Viterbe», eine Angabe, für die sich der Herausgeber auf den Vorbesitzer Guibal berufen konnte, mit dem er direkten Kontakt hatte. In den Annalen des römischen Kapuzinerklosters ist nur ein Fra Giuseppe (Faggioli) dokumentiert, der 1655 geboren wurde und der am 7. 10. 1725 verstarb (freundliche Mitteilung von Prof. Rinaldo Cordovani, Rom). Er kommt jedoch wegen seiner Lebensdaten nicht in Betracht. Der Umstand, dass für die nun bekannt gewordene Version als Bildträger eine sorgfältig zugerichtete Wallnusstafel (Folie 9) verwendet wurde, spricht dafür, dass sie ebenfalls in Rom entstanden ist. Zur Provenienz des Bildes ist jedoch so gut wie nichts bekannt. Laut dem alten rückseitigen Aufkleber (Folie 2), der in stark dezimierter Form überlebt hat, befand es sich bis 1886 in der Sammlung eines Herrn Wilhelm […] Sarasin, aus dessen Besitz es der Autor der Aufschrift für 50(?) Franken gekauft hat. Möglicherweise handelte es sich bei dem Vorbesitzer um den Basler Bandfabrikanten und Großrat Wilhelm Sarasin-Iselin (1855-1929). Daraus folgt, dass sich das Bild schon seit ca. 150 Jahren in der Schweiz befindet. Ob es sich dabei um dasselbe Bild handelt, das der „Schartekenhändler“ (Trödler) Romey aus Schaffhausen 1802 in Wien für 2000 Gulden feilbot (Kat. 214, WK6), bleibt zwar offen, ist aber nicht auszuschließen. Die entsprechende Nachricht findet sich in der von Johann Georg Meusel herausgegebenen Zeitschrift „Archiv für Künstler und Kunstsachen“ für das Jahr 1804 unter der Rubrik „Wiener Miszellen“ (S. 17-18). Besagter Trödler gab, so die die Notiz, das Bild als Original aus, es sei aber, so der Kommentar Meusels, die Kopie des in München befindlichen Gemäldes. Abgesehen davon, dass aufgrund der damaligen Vergleichsmöglichkeiten eine Aussage zur Frage Kopie oder Original kaum möglich war, trug zweifellos der Ruhm und der Preis des 1792 von Kurfürst Karl Theodor erworbenen Bildes aus dem Nachlass des angesehen Stuttgarter Hofmalers Guibal dazu bei, dass das von Romey offerierte Bild von vornherein als Kopie eingestuft wurde. Die in kursiver Schrift gehaltene Aufschrift «R: Mengs» (Folie 2), die augenscheinlich zur originalen Maltextur gehört, befindet sich in der äußersten Ecke des unteren Bildrandes, rechts vom Wanderstab und unterhalb der den Stab umfassenden linken Hand des Kapuziners. Ein Blick auf die Münchner Fassung zeigt, dass hier von der rechten Hand nur der Daumen und ein Teil des Zeigefingers dargestellt sind, mit dem eine Perle des Rosenkranzes gehalten wird, während die mit der Aufschrift versehene Version auch den Mittelfinger und einen Teil des Ringfingers wiedergibt (Folie 7). Diesem Befund entspricht die um 3 cm geringere Höhe des Münchner Bildes. Dessen Reduzierung am unteren Rand lässt sich demnach aus dem Wegfall der Partie mit der Signatur und einem Teil der rechten Hand erklären. Legt die Provenienz des Münchener Bildes, wie dargelegt, eine Entstehung zwischen 1752 und 1755 nahe, so fehlen für die neue Version Indizien für ihre Datierung. Den einzigen Hinweis auf das zeitliche Verhältnis zwischen den beiden Fassungen liefert der Duktus der Aufschrift (Folie 2), die vorbehaltlich einer maltechnischen Prüfung m. E. als Signatur anzusehen ist. Im Spektrum der nicht sehr zahlreichen Signaturen in Mengs’ Oeuvre ist der Namenszug wegen der Weglassung des A (für Anton) zwar ungewöhnlich, andererseits aber weist er deutliche kalligraphische Ähnlichkeiten mit den frühesten Signaturen des Künstlers auf. Die eine befindet sich auf seiner Kopie nach Marattis Raffael-Klage von 1741 (Roettgen 1999, Kat. Z 61), die andere auf dem Porträt des Kurfürsten Friedrich Augusts II. von Sachsen von 1745 (Roettgen 1999, Kat. Nr. 148). Es wäre also denkbar, dass das beschriftete Bildnis früher entstanden ist und zwar zu einer Zeit, als es dem Maler wichtig war, sein Werk namentlich zu kennzeichnen. Karrieremäßig kommt dafür der zweite Romaufenthalt (1746-1749) in Frage, als der junge Maler große Aufmerksamkeit auf sich zog. Wie der Blick auf sein damals entstandenes Ölbildnis des Vaters zeigt (Roettgen 1999, Kat. Nr. 222), wäre seinem Können als Porträtist eine solche Leistung bereits während dieser Zeit zuzutrauen, als er sich nach seinen ersten Dresdner Erfolgen als Pastellmaler zunehmend der Ölmalerei zuwandte. Passend zum Status des Dargestellten wählte er einen naturalistischen Modus, für den sogenannte „Charakterköpfe“ in Rembrandt-Manier Pate standen, wie sie um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland und in Norditalien beliebt waren. Obwohl das Bildnis Merkmale eines solchen Typenporträts aufweist, wofür Azaras erwähnter Bericht über seine Entstehung ein guter Beleg ist, erhält es durch die wachen Augen, die sich beobachtend und mit einer gewissen Skepsis auf das Gegenüber richten, eine individuelle Prägung, die in der jetzt bekannt gewordenen Version deutlicher in Erscheinung tritt als im Münchner Bild (Folie 10). Die graphischen Reproduktionen und Kopien, denen durchgängig die heute in München befindliche Version zugrunde liegt (Verzeichnis in Roettgen 1999, S. 284) belegen die Attraktivität des Gemäldes für den Geschmack des 18. Jahrhunderts. Soweit sich dies mit bloßem Auge feststellen lässt, ist die Qualität der Ausführung in beiden Versionen gleichrangig, wie an der Augenpartie (Folie 6), dem Ohr (Folie 5), dem in meisterhafter Feinmalerei ausgeführten Kopf und Barthaar (Folie 5), der Mundpartie (Folie 8) und der linken Hand (Folie 7) deutlich wird. Ein auffälliges naturalistisches Detail in beiden Fassungen sind die schmutzigen Fingernagelränder, die in dem gereinigten Bild allerdings markanter in Erscheinung treten. Dies gilt auch für die Augenpartie, die hier eine stärkere individuelle Prägung aufweist (Folie 6). Die Gegenüberstellung mit der Münchner Fassung lässt jedenfalls keinen Zweifel an der Eigenhändigkeit des der bisherigen Forschung nicht bekannten Bildes, das sich dank der Reinigung in weitaus besserem Zustand befindet als die durch eine dicke und verschmutzte und verkrustete Firnisschicht in ihrer Wirkung beeinträchtigte Münchner Fassung. Dass beide Versionen auf eine Holztafel gemalt wurden (Folie 9), einen im 18. Jahrhundert ˈaltmeisterlichˈ anmutenden Bildträger, den Mengs aber gern verwendete, spricht für die Eigenhändigkeit beider Versionen, wobei offen bleiben muss, warum nur eines der beiden Bilder mit dem Namen des Malers bezeichnet wurde. Barbara Hardtwig hat 1978 für die Münchner Version die Identität des Dargestellten mit Fra Crispino da Viterbo erwogen, sie aber aus mehreren Gründen ausgeschlossen (s. a. Roettgen 1999, S. 283). Ausgehend von der durch die zweite eigenhändige Version geschaffenen Sachlage stellt sich die aufgrund der Daten bisher ausgeschlossene Identifizierung mit Fra Crispino in einem neuen Licht dar. Der Umstand, dass sein bürgerlicher Name Pietro war, er demnach bei den Zeitgenossen auch als Pietro da Viterbo - so die auf Guibal zurückgehende Benennung des von Mengs Porträtierten - gelten konnte, untermauert die hier vertretene These, dass er es war, den Mengs in Rom kennengelernt und konterfeit hat. Der Zeitpunkt, zu dem sich der junge Maler und der damals achtzigjährige Kapuziner in Rom begegnet sein müssen, lässt sich exakt auf die Jahre 1748 und 1749 eingrenzen. Das wichtigste Argument, das für die Identität des Dargestellten mit San Crispino spricht, ist der folgende, das Porträt in Guibals Besitz betreffende Passus in der französischen Ausgabe der Schriften von Mengs aus dem Jahr 1782: «Dans le cabinet de M. Guibal, la tête d’un capucin avec deux mains, peinte d’après le frère Pierre de Viterbe, mort en odeur de sainteté.» Geboren als Pietro Fioretti, hatte der Laienbruder des Kapuzinerordens 1693 den Namen Fra Crispino angenommen, und erlangte durch sein wohltätiges Wirken an verschiedenen Orten des Kirchenstaates große Popularität. Er galt als ein frommer, gütiger und weltgewandter Mann, der auch vom hohen römischen Klerus geschätzt wurde, weil er allgemeine Glaubenswahrheiten in eine einfache, poetische und bildhafte Sprache zu kleiden verstand. Bereits zu Lebzeiten im Geruch der Heiligkeit stehend, wurde 1755 von Orvieto aus das entsprechende Verfahren in die Wege geleitet, das aber erst 1806 in der Seligsprechung durch Papst Pius VII. seinen Abschluss fand. Am 20. Juni 1982 galt ihm die erste der zahlreichen, von Papst Johannes Paul II. vorgenommenen Heiligsprechungen. Die Ähnlichkeit mit den überlieferten Bildnissen des Heiligen (Folie 11) hält sich aus nachvollziehbaren Gründen in Grenzen. Die ikonographischen Attribute (braune Kutte, weißer Vollbart, Wanderstab aus Wurzelholz, Rosenkranz) sind dabei nicht besonders relevant, da sie allgemein für den Kapuzinerorden gelten. Die bekannten Porträts des Fra Crispino zeigen ihn in jüngeren Jahren (Folie 11) oder gehören sämtlich der Kategorie des schematischen Votivbildes an. Die meisten von ihnen stehen wohl im Zusammenhang mit der Seligsprechung des Jahres 1806 und gehen auf das damals entstandene Altarbild des Fra Luigi da Crema zurück (LCI 1974). Eine erkennbare Ähnlichkeit einiger dieser Bildnisse mit dem Porträt von Mengs besteht lediglich in der Gesichtsform, dem Haaransatz, der kräftigen und wohlgeformten Hand, sowie in der Mundform. Als Mengs Fra Crispino alias Pietro da Viterbo konterfeite, ließ sich noch nicht absehen, dass dieser Mann einst zur Ehre der Altäre erhoben werden würde. Da zu Lebzeiten entstanden, kann das Porträt, dem die Aura der Heiligkeit fehlt, als seine bisher einzige vera effigie gelten.