DW_Z_142 Weibliche Kopfstudie (Mengs, Anton Raphael) (new)

Wegen ihrer Ähnlichkeit mit einigen weiblichen Personifikationen (Juno, Ceres-Abundantia und Klio-Poesia, Architectura) in der „Apotheose des Kaisers Trajan“ in Madrid wurde die Zeichnung von mir bislang als Vorarbeit für dieses Fresko angesehen [Roettgen 1999, Kat. 299 VZ 3, AK Padua 2001].
Mengs hat diesen stark idealisierten Gesichtstypus jedoch bereits um die Mitte der 1750er Jahre ausgebildet, wie die Gegenüberstellung der Zeichnung mit dem 1755 entstandenen Gemälde Semiramis erhält die Nachricht vom babylonischen Aufstand [Roettgen 1999, Kat. 113] zeigt. In der Haltung und in den Einzelformen (breite Nasenwurzel, große glasige Augen, geschwungene volle Lippen) stimmt das Gesicht der Semiramis so eng mit der Zeichnung überein, dass die Studie in diesen Zeitraum zu datieren ist, auch wenn wegen des unterschiedlichen Ausdrucks ein direkter Werkzusammenhang mit dem Gemälde auszuschließen ist
Aus dieser revidierten frühen Datierung ergeben sich neue Einsichten in den Kontext, in dem das Blatt entstanden ist. Davon betroffen ist auch die Darstellung auf dem verso mit einer halbierten und um 90° gedrehten männlichen Rückenfigur, die ich früher Alessandro Maggiori zugeschrieben habe, der während seiner römischen Jahre (1798-ca. 1808) bei Corvi Unterricht genommen hat.
Die Aktfigur weist im Stil und im somatischen Typus sehr enge Beziehungen zu den akademischen Aktzeichnungen von Domenico Corvi (1721-1803) auf (Vergleichsabbildung). Damit kann die Zugehörigkeit der Zeichnung zu dessen Repertoire als sicher gelten. Maggiori besaß nachweislich mehrere Zeichnungen seines Lehrers, die sich jedoch in der heute stark dezimierten Sammlung nicht mehr nachweisen lassen (Dania, 1995, S. 12).
Auf dem verso zeigen sich deutliche Merkmale einer nachträglichen Reduktion des Papiers. Eine genauere Betrachtung der Platzierung der Aktfigur ermöglicht vor dem Hintergrund der neuen Datierung überraschende Einblicke in die relative Chronologie der beiden Zeichnungen. Abgesehen davon, dass halbe Aktstudien nicht üblich waren, ist deutlich zu erkennen, dass der stehende Akt nachträglich halbiert und der obere Teil seines Kopfes abgeschnitten wurde. Daraus folgt, dass die Aktstudie zeitlich der weiblichen Kopfstudie vorausgegangen sein muss, was wiederum zu dem Schluss führt, dass der Urheber der Aktstudie der erste und Mengs der zweite Zeichner war. Als letzterer das wohl auch an den seitlichen Rändern beschnittene Blatt wiederverwendete, passte er seine Kopfstudie jedenfalls perfekt in die neue Fläche ein.
Der Kontext, in dem eine solche Zweitverwendung möglich und plausibel ist, lässt sich auf die Jahre 1753 bis 1757 eingrenzen, als Mengs in seiner Wohnung in der via Sistina eine private Akademie abhielt, die auch von Corvi frequentiert wurde, der im Frühjahr 1753 sogar als Mitglied des Haushalts von Mengs dokumentiert ist (Roettgen 2003, S. 123, 470).
Die von Maggioris Hand stammende Angabe “ricavata dal vivo 1790“ scheint dem zu widersprechen. Möglicherweise bezieht sich aber das Datum auf das Erwerbsdatum des Blattes. Durch Maggioris Aufschrift wurde die Zeichnung auf dem verso jedenfalls zum recto (s. Di Filippo 1925). Denkbar wäre, dass der Sammler auch die Kopfstudie für eine Arbeit Corvis hielt, was jedoch genauso auszuschließen ist wie die Alternative, dass nämlich beide Zeichnungen von einer Hand bzw. von Mengs stammen.